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Islam als Lehre und gesellschaftliche Wirklichkeit

Islam als Lehre und gesellschaftliche Wirklichkeit



Vorbemerkung und Einleitung

Die Abweichung der Wirklichkeit von der Lehre ist ein häufig auftretendes Phänomen. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, auf die möglichst reinste Form der jeweiligen Lehre zurückzugreifen, um die Abweichungsgründe erforschen und beheben zu können.

a) Wichtigste historische Daten: Lebenszeit Muhammads (570—632); Offenbarungszeit (610-632); Auswanderung von Mekka nach Medina und Beginn der islamischen Zeitrechnung (623); Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen (632—661); Umaiyadenzeit (661—750); (750-1031 weitere Umaiyadenherrschaft im Westen); Abbasidenzeit (749—1258); Osmanisches Reich (14. bis Anfang des 20. Jh.);

Weitere wichtige Reiche: Mogulherrscher in Indien (1526—1858); Safawiden im Iran (1501—1732); seit dem 17. Jh. Begegnung des Islams mit dem Westen als einer überlegenen Macht.

    Quellen der islamischen Lehre sind 1. der Koran, das für alle Muslime verbindliche Wort Gottes (verbale Inspiration); 2. die den Koran deutenden (erklärenden) Aussagen und Verhaltensweisen Muhammads, genannt as-Sunna; 3. der durch Koran und Sunna legitimierte Consensus und 4. die für das Denken und die Praxis relevanten allgemeinen logischen Prinzipien.

c) Der Mensch steht insofern im Mittelpunkt des koranischen Interesses, als seine direkte Beziehung zu Gott, d. h. seine Ergebenheit Gott gegenüber, den Inhalt des Islam (Gottergebenheit) ausmacht. Diese direkte Beziehung und Verbindung zu Gott bildet nicht nur den religiösen Kern der islamischen Lehre, sondern bestimmt darüber hinaus — wie später gezeigt wird — die gesellschaftliche und politische Struktur der islamischen Gemeinschaft.

d) Entwicklungs- und Reformmöglichkeiten der islamischen Lehre: Der Koran wurde nicht auf einmal, sondern innerhalb von 23 Jahren sukzessiv entsprechend den lebendigen Situationen verkündet. Dem entspricht die Dynamik, mit der die Muslime bei der raschen Erweiterung des Islam fremdes Gut islamisierten und adaptierten. Dies, wie auch das Weiterleben des Islam unter verschiedenen Völkern führte zur Aufnahme vieler Strukturen, Sitten und sogar Lebensregeln, die für spätere Generationen als Dogma geltend das Leben und die Weiterentwicklung des Islam erschwerten. Die islamischen Reformatoren haben zu allen Zeiten bis heute ihre Aufgabe darin gesehen, über das Vorgefundene hinweg auf den Ursprung des Islam, auf den Koran, zurückzugreifen. Zu den wichtigsten Reformatoren werden gezählt: Ibn Hanbal (780-855); Abu‘l-Hasan al-Asch‘ari (gest. 946); Ihn Taimiya (1263—1328); Ibn ‘Abdalwahhab (1703—1787); Schah Waliyullah von Delhi (1703—1781). Für die Reformbewegungen anlässlich der Konfrontation mit der wirtschaftlichen und politischen Macht des Westens sind bis heute von besonderer Bedeutung: Djamal ad-Din, bekannt als al-Afghani (1839—1897) und sein ägyptischer Schüler Muhammad ‘Abduh (1849—1905) und ihre Schulen.

e) Islamische und westliche Wertsysteme: Das konsequente Gefüge der islamischen Werte berechtigt uns, von einem islamischen Wertesystern (vgl. dazu das Folgende) zu sprechen, das sich von dem abendländischen in seinem Ansatz, seinem Gehalt und seiner Zielgerichtetheit unterscheidet. Diese Unterschiedlichkeit war und ist immer noch der Grund für gegenseitige Missverständnisse und Vorurteile. Ein besseres Verständnis des Islam setzt voraus, es zu vermeiden, nur die westlichen Denk- und Wertkategorien als Maßstab zu verwenden.

Was ist der Islam und wozu verpflichtet

man sich als Muslim?

Die Hingabe an einen einzigen Gott macht den Inhalt einer religiösen Haltung aus, die der Ausdruck "Islam" wiedergibt. Das gilt nicht nur für die von Muhammad verkündete Lehre, sondern auch für alle anderen religiösen Lehren, die, die Gottergebenheit zum Inhalt haben. Als Prototyp eines wahren Muslims hebt der Koran die Person Abrahams, den Bekämpfer der Götzenanbeterei, hervor. In diesem Sinne bringt der Koran auch allen vorherigen Religionen Anerkennung entgegen, die Gottergebenheit gelehrt haben. "Die (einzig wahre) Religion bei Gott (immer und überall) ist der Islam" (Koran: Sure 3/Vers 19). Als Muslim verpflichtet man sich zur Erfüllung dieser religiösen Haltung. Erfüllung findet sie nicht in einer rein gefühlsfreien logischen und philosophischen Überzeugung, sondern in einer mit dem höchsten lebendigen Wesen emotional verbindenden Überzeugung und in den Handlungen, die mit dieser Überzeugung korrespondieren. Anders gesagt: Man verpflichtet sich als Muslim auf Glauben und Handlung; ein Glaube, - der in der Handlung seine Realisierung findet und Handlungen, die ihren Sinn im Glauben erblicken. Diese untrennbare Zusammengehörigkeit des Glaubens und der damit verbundenen Handlung ist die Konkretisierung der un-mittelbaren Gott-Mensch-Beziehung; Mensch nämlich als Individuum und als Mitglied der Gemeinschaft, umma, zu der auch die Person Muhammads als eines der Mitglieder gehört. (Er ist also in keinem Falle Mittler zwischen den Menschen und Gott, was gegen den Sinn des Islam, gegen die ausschließliche Hingabe an Gott, verstößt.) Diese unmittelbare Gott-Mensch-Beziehung wird bestimmt:

a) durch den Glauben, daß es nur einen Gott gibt; daß die Gesandtschaft zur Verkündung dieser wahren Lehre notwendig ist; daß die Verbindung zwischen Gott und den Menschen nicht mit dem Tode abbricht, sondern es ein ma‘äd, eine Wiederkehr am Tage des Jüngsten Gerichtes, und in diesem Sinne ein Weiterleben gibt; daß al-qadä wa‘l-qadar‘ d. h. ein ständiges Präsentsein der Allmacht Gottes die Entscheidungen und Handlungen des Menschen begleitet, ohne dem Menschen seine freie Entscheidung und seine Verantwortung abzunehmen; daß sich der Erschaffungsakt nicht nur auf ein intelligibles Wesen Mensch beschränkt, sondern daß es weitere erschaffene Mächte (als Engel bezeichnet) gibt, die dem göttlichen Willen voll und ganz ergeben sind.

b) durch Handlungen auf der privaten und gesellschaftlichen Ebene, die diese Überzeugungen in der Weise repräsentieren, daß sie daraufhin gerichtet sind, bzw. sein sollen.

So stellt der Glaubensbereich in seinem vollen Umfange die weltanschauliche und die Handlungsbereiche in ihrer Differenziertheit (private, gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische, juristische usw.) die praktische Seite der islamischen Lehre dar, indem die erste das Fundament für die zweite liefert und die zweite die faktische Verwirklichung der ersten sein soll. In diesem Sinne kommt eine besondere Bedeutung denjenigen Handlungen zu, die als "Säulen des Islam" bezeichnet werden, nämlich: Gebet (5 mal am Tag), Fasten (Monat Ramadan), Abgaben von Geld und Gütern zum Erhalt der Gemeinschaft und die Pilgerfahrt nach Mekka (nach Möglichkeit mindestens einmal im Leben).

Die islamische Weltanschauung als Basis des gesellschaftlichen, politischen

und wirtschaftlichen Verhaltens

Die islamische Weltanschauung erschöpft sich nicht darin, daß man an Gott, an die von ihm geschaffene Welt und ihre Ordnung und an seine durch die Gesandten verkündete Lehre glaubt. Sie ist vielmehr durch die Art, durch das Wie des Glaubens zu charakterisieren. Ent-scheidend dabei ist die Weise des Glaubens an Gott. Nicht nur die Überzeugung, daß es einen einzigen Gott gibt, sondern das Verneinen all dessen, was außer ihm als wirkende oder mit-wirkende Macht und Kraft in Frage kommen könnte (Ia ilaha illa‘ llah) liefert das Fundament der islamischen Weltanschauung, von dem die anderen Glaubensartikel als Folge abhängen. Nur Gott, seine Allmacht, seine Allwissenheit und sein Wille begleiten jedes Geschehen; alles, was sonst als wirkende oder mitwirkende Ursache daran beteiligt zu sein scheint (vom Metaphysischen bis hin zu Gesandten Gottes oder anderen Kräften, Mächten und sogar Menschen) ist dem Willen Gottes untergeordnet. So entsteht eine vom Willen Gottes durchzogene Welt und Weltordnung, zu der auch der Mensch, sein Leben, sein Handeln und die Bestimmung seines Verhaltens durch die Offenbarung gehört. Die Kausalität in der Natur und die Freiheit des Menschen werden nicht abgelehnt. Sie sind allerdings immer und überall vom göttlichen Willen begleitet, ohne den es sie nicht geben kann, bzw. ohne den sie nicht wirken können.

Die Grundstruktur einer islamischen Gesellschaft

Die dem Menschen gebotene Haltung, sich in allen Angelegenheiten nur einem einzigen Gott zuzuwenden und die Überzeugung, daß alles andere außer ihm nur als unter dem göttlichen Willen stehend zu respektieren und jede Art von Personenkult abzulehnen ist, bestimmen die Grundstruktur einer islamischen Gesellschaft, die durch weitere Strukturmomente ausgebaut wird: Jeder Mensch als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft hat eine direkte Beziehung zu Gott zu pflegen, der seinerseits in der gleichen direkten Beziehung zu den anderen Gesellschaftsmitgliedern steht. Die Wechselbeziehung der Mensch-Gott-Gemeinschaft verschafft als Abbild von der Einheit Gottes eine gesellschaftliche Haltung, die der islamischen Gemeinschaft von innen heraus auf ein Endziel hin eine Einheit bietet, die jenseits aller materiellen Interessen die Mitglieder der Gemeinschaft ohne Rang- und Wertunterschiede miteinander und mit Gott verbindet.

Der Vollzug einer solchen Haltung bedeutet, daß in einer solchen Gesellschaft sich keiner über den anderen erheben darf, weder aus materiellen, noch sogar aus immateriellen, etwa geistigen, Gründen. Nur die Frömmigkeit im Sinne eines vollen Vollzuges der Gottergebenheit, d.h. vollständige Erfüllung privater und gesellschaftlicher Pflichten, gibt Anlaß zu einem Rangunterschied ("der Vornehmste sein"), und nur vor Gott und nicht unter den Menschen (Koran: Sure 49/Vers 13).

Die direkte Folge einer solchen Gleichheit ist das weitere Strukturmoment, d. h. eine dementsprechende Gerechtigkeit, die als Ziel der prophetischen Sendung im Koran angegeben wird (Koran: Sure 57/Vers 25). Nicht nur die Gerechtigkeit unter den Menschen in ihrer Gemeinschaft ist das Ziel der prophetischen Sendung. Die Gemeinschaft nimmt darüber hinaus eine so zentrale Bedeutung ein, daß ihre Rechte als Rechte Gottes bezeichnet werden. Im Gegensatz zu haqq an-näs (Rechte eines jeden Menschen) bezeichnet haqq Alläh die Rechte Gottes, einmal gottesdienstliche Ehrerbietungen, die ihm und nur ihm gebühren und Rechte, die, die Gemeinschaft (umma) als Gemeinschaft besitzt. Zu den Rechten des Menschen gehört sein Besitz sein Leben, der Schutz seiner Familie usw. Zu der Rechten der Gemeinschaft, die als Rechte Gottes deklariert sind, gehört die Bewahrung der Sicherheit der Gemeinschaft, wozu die Vorbeugung vor jeder Störung des Friedens und der geordneten Koexistenz gehört. Diese höchst bedeutungsvolle Identifikation göttlicher Rechte und der, der menschlichen Gemeinschaft drückt nicht nur die einmalige Bedeutung der Gemeinschaft aus, sondern sie weist auf das Präsentsein Gottes in der Gemeinschaft als Beschützer und Partner hin. Der Einklang des göttlichen Willens und des Willens der Gemeinschaft als bestimmendes Merkmal der Struktur der islamischen Gemeinschaft wird noch dadurch verstärkt und weiter ausgebaut, daß der Mensch in der Sprache des Korans stets aufgefordert wird, nachzudenken (zikr, ‘aql), mitzudenken (‘ilm) und Gebote und Verbote nicht als Dogmen, sondern als verstandesgemäß (fahm) und gesellschaftlich gerechtfertigt zu akzeptieren. Die wirtschaftlichen, juristischen und politischen Vorschriften des Islam sind im wesentlichen als Konkretisierung dieser Gesellschaftsstrukturen konzipiert.

Das islamische Gesetz, seine

Entwicklung und Bedeutung für die gegenwärtigen Entwicklungen

Die Charakterisierung des Islam als einer "Gesetzesreligion" ist irreführend, wenn diese den Eindruck erwecken soll, daß der Islam aus einer Summe von Gesetzen, wie etwa den römischen oder dergleichen mehr, bestehe. Die Vorschriften, die das Leben des Individuums und der Gemeinschaft regeln sollen, sind nur als Verwirklichung der Hingabe an Gott auf der Ebene Mensch-Gott-Gemeinschaft zu verstehen. Nicht die Gesetze als solche — wie etwa -mathematische Gesetze —‚ sondern die Handlungen im -Sinne der Verwirklichung des menschlichen Lebens haben primäre Bedeutung; Handlungen, die ihrerseits der Vollzug des Verhältnisses der Mensch-Gott-Gemeinschaft sind.

Es sind also nicht Gesetze, die als Bestandteile eines Rechtssystems auf einer Soll-Ebene existieren. Sie sind vielmehr als Ausdruck der‘ Form der Handlungen mit diesen verbunden. -D. h., mit dem Gesetz und dessen Verwirklichung ist ein Stück Glaube und dessen Realisierung verbunden. Das bestimmt das Verhältnis eines Muslims zum islamischen Gesetz. Gesetze sind nicht da, um als Einschränkungen angesehen zu werden, die man möglichst zu umgehen versucht. Sie sind Mittel zur Verwirklichung des Mensch-Gott-Gemeinschafts-Verhältnisses und nicht Selbstzweck; eine Zielsetzung, die in der Realität nicht bei jedem Muslim ernsthafte Resonanz gefunden hat. Darin ist die Tatsache begründet, daß sich verhältnismäßig wenige — weniger als 10% — der Koranverse mit den Gesetzen beschäftigt haben; daß auch diese Gesetze zu etwa 70% erst gegen Ende der Offenbarungszeit, d. h. nach der Stabilisierung des Mensch-Gott-Gemeinschafts-Verhältnisses verkündet wurden; dass die Gesetzesmotivation den Muslimen in verschiedenen Zeiten die Islamisierung anderer juristischer Güter und selbstschöpferische Bestimmungen ermöglicht hat. Die Schattenseite dieser Entwicklung war jedoch die, daß viele Regelungen später als Dogmen starre Formen annahmen, die der ursprünglichen Dynamik des Islam entgegenwirkend einer weiteren zeitgemäßen Entwicklung im Wege standen und noch im Wege stehen. Hier war — und ist heute noch — der Ort, wo die Reformatoren am häufigsten ansetzten und heute noch ansetzen müssen. Das Gemeinsame bei ihnen ist die Orientierung an den Urformen des Islam. Auch heute ist es dem Gebot des Koran nach möglich und sogar erforderlich, sich danach orientierend, ein den Bedürfnissen der Zeit ent-sprechendes Verhältnis verschiedener Gesetze herbeizurufen, ohne dem Koran zu widersprechen.

    Die Grundzüge der islamischen Wirtschaft

Das unmißverständliche Streben des Korans nach einer absoluten gesellschaftlichen Gerechtigkeit findet unter anderem in einer der islamischen Maximen seinen Niederschlag, die für die islamische Wirtschaft von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es ist das Prinzip einer gerechten Entsprechung zwischen Leistung und Gegenleistung, einschließlich immaterieller Leistungen. Auf die Wirtschaft angewendet bedeutet dies nicht eine Abschaffung des Eigentums oder gar eine gleiche Verteilung der Reichtümer unter allen Mitgliedern der Gemeinschaft. Es meint auch keine Absage der einseitigen Schenkungen und des Verzichtes auf einen Ausgleich. Übersetzt heißt das Prinzip vielmehr Absage gegenüber einer Ausbeutung der Leistung anderer Mitmenschen ohne entsprechende Gegenleistung; gegenüber Spekulationen, die letztlich die Wirtschaft in die Hände einiger Gruppen verlagern, von denen der Rest der Gesellschaft abhängig sein wird; gegenüber Monopolen; gegenüber allen denjenigen Geschäften, die nicht die Leistung, sondern den Zeitablauf als gewinnbringenden Faktor einsetzen: ein Prinzip, das konsequenterweise zum Zinsverbot geführt hat und zum Verbot gleicher Geschäfte, die Geld plus Zeit, aber ohne eigene Leistung für eine — daher ungerechtfertigte — Gegenleistung zu Grunde legen.

Die Überzeugung, daß der göttliche Wille und die göttliche Macht alle Geschehnisse in der Welt und im menschlichen Dasein begleiten und die daraus resultierende, bereits angewandte Folge, daß Gott als Partner in der menschlichen Gemeinschaft ihre Rechte vertritt, hat auch erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen: Der Koran spricht von mal Allah, Reichtum Gottes (Koran: Sure 24/Vers 33), der den Bedürftigen — wirtschaftlich nicht Leistungsfähigen — gewährt werden soll. Es sind die Reichen, die dazu aufgefordert werden, nämlich diejenigen, die im Besitz von Vermögen sind, das über ihren angemessenen Bedarf hinausgeht. Der Überschuss gilt als mal Allah, als Gemeinschaftseigentum. Es steht jedoch nicht beliebig jedem zu, sondern nur denjenigen, die in einer durch und durch islamisch geordneten Gemeinschaft die Leistungsunfähigen sind. Die Rückbesinnung auf diese ursprünglichen islamischen Wirtschaftsprinzipien hat in den letzten Jahrzehnten in manchen islamischen Ländern zu einer noch im Werden begriffenen Umstrukturierung geführt. Es sind Länder, in denen die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen eine der Grundlagen der Revolution ausmacht, wie z. B. Algerien, Libyen und Iran. Die Endform der angestrebten Modelle ist jedoch nicht kurzfristig zu erreichen; mitentscheidend, freilich schwer zu kalkulieren, ist dabei die Reaktion der westlichen und östlichen Weltwirtschaft. Für die Rechtfertigung ihrer Meinung können sich die Vertreter dieser Umstrukturierung über die faktische Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung in den islamischen Ländern — welche die genannten Wirtschaftsprinzipien außer acht ließen — hinwegsetzen und sich auf die Zeit Muhammads und die reichhaltigen Belege in Koran und Sunna berufen.

Die Stellung der Frau im Islam

Aus der gesellschaftlichen und juristischen Perspektive betrachtet, bildet die Stellung der Frau eines der schwierigsten und wichtigsten Probleme im Islam. In keinem anderen Falle hat nämlich die islamische Welt in ihrer geschichtlichen Entwicklung zum Nachteil der Frauen so viele Strukturen, Sitten und Gewohnheiten derjenigen Gesellschaften angenommen, in denen er sich entwickelte. In keinem anderen Falle ist die Kluft zwischen der koranischen Lehre und der historischen und gesellschaftlichen Realität so groß. Die von Kritikern betonte niedrige Einstufung, Diskriminierung und Benachteiligung der Frauen in den islamischen Ländern verstoßen nicht nur gegen den Koran, nämlich gegen die absolute gesellschaftliche Gleichheit, Gerechtigkeit und gegen die Mensch-Gott-Gemeinschaft als Grundstruktur der islamischen Gesellschaft, sie sind darüber hinaus Zeugen des Überlebens derjenigen Strukturen, die der Islam bei seiner Entstehung bekämpfte:

In dem grundsätzlichen islamischen Verhältnis der Mensch-Gott-Gemeinschaft genießt die Frau den gleichen Rang wie der Mann. Ihrem Wesen nach steht die Frau als Mensch dem Mann gleich. So wird bei der Wiedergabe der Schöpfungsgeschichte nicht Eva als Frau zur Last gelegt, beeinflußt vom Teufel (Schlange) ihren Mann Adam verführt zu haben; das Vergehen kommt beiden gleichzeitig und gleichgewichtig zu (Koran: Sure 2/Vers 36).

Während in der Familie die Frau als Mutter viel höhere Achtung genießt als der. Vater, stehen — entsprechend den wirtschaftlichen Verhältnissen — dem Manne in der Gesellschaft größere Rollen und mehr Verpflichtungen zu. Die Ehe geht ausschließlich von der Frau aus, die ihre Bereitschaft dazu ausspricht, wonach erst der Mann seine Bereitschaft aussprechen soll. Hierbei wird laut Koran (Sure 4/Vers 4) die sogenannte Morgengabe (sadaq) nur als Geschenk (nihla) vorgeschlagen. Auch nach der Ehe verfügt die Frau unabhängig vom Mann voll und ganz über ihr Vermögen. Der Mann hat kein Recht, sich darin einzumischen.

Die Frau hat das Recht auf standesgemäßen Lebensunterhalt, auf Wohnung und Kleidung, selbst wenn sie vermögend und wirtschaftlich völlig unabhängig ist. Sie hat das Recht, für die von ihr erbrachten Leistungen im Haus und sogar für das Stillen der Kinder Geld zu verlangen. Der Mann hat kein Recht, der Frau über ihre Verpflichtungen hinaus die geringsten Befehle zu erteilen. Die Frau ist dem Manne gegenüber verpflichtet, sein Eigentum und ihre Treue zu schützen. Die eheliche Verbindung, unter Vermeidung der Perversion (Koran: Sure 2/Vers 223), gilt als beiderseitiges Recht. Als Mißbrauchsverbot der körperlichen Überlegenheit des Mannes und im Rahmen seiner Schutzverpflichtung gibt es eine vieldiskutierte Stelle im Koran (Sure 4/Vers 34): Im Anschluß an eine Aussage über die Schutzpflicht des Mannes (ar-ridjal qawammun ‘ala‘n-nisa / Die Männer sind die Verantwortlichen für die Frauen) gibt der Koran zu den besonders schwierigen Fällen in der Ehe sinngemäß folgende Erklärung: Im Falle einer ständigen — nicht nur einmaligen —Verletzung ihrer religiösen Pflichten (nuschuz) — und nur in dem Falle, wenn das Zusammenleben dadurch unerträglich wird — wird dem Manne, uni einer Scheidung vorzubeugen, die Möglichkeit eingeräumt, Maßnahmen zu ergreifen, die von Ratschlägen bis zur Trennung im Bett reichen, und wenn dies alles nicht nützt, bis zu einem "nicht-schmerzenden Schlage" (ghair mu-barrih / (s. Tabaris Kommentar). Hier meinen die Gelehrten einstimmig, daß die Beschimpfung, jegliche Misshandlung und sogar "nicht-schmerzende" Schläge der Frau wegen jeder Art weltlicher und alltäglicher Streitfragen verboten (haräm) sind: Die Erklärung "nicht-schmerzender-Schlag" hebt grundsätzlich jede Art von Schlägen auf. Ebenso obliegt es der Frau, im Rahmen der allgemeinen Verpflichtungen jedes Muslims, "das Recht zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten" (Koran: Sure 3/Vers 110) und erzieherisch darauf zu wirken, den Mann von der Verletzung seiner Pflichten abzuhalten. Der Frau wird darüber hinaus eingeräumt, ihre Rechte zuerst durch einen Schiedsrichter und dann durch das Gericht geltend zu machen. Die Scheidung, die als solche zwar als verpönteste Erlaubnis deklariert wird (abghad al-haläl ‘inda‘lläh at-talüq) geht in der Formulierung talaq (Freigabe) vom Mann und in der Formulierung khul‘ (Freinahme) von der Frau aus.

Durch die wirtschaftliche Dominanz der Männer bedingt und im Rahmen ihrer Versorgungsverpflichtung lässt der Koran die Möglichkeit zur Vielehe offen. Im gleichen Vers unterbindet er diese Möglichkeit, wenn der Mann nur fürchtet, im Falle einer Vielehe die Frauen nicht gerecht behandeln zu können. (Koran: Sure 4/Vers 3: "Wenn ihr aber fürchtet, (sie) nicht gerecht zu (be)handeln, dann (nur) eine.")

Dazu kommt die Möglichkeit, der Frau bei der Eheschließung das Scheidungsrecht einzuräumen, falls der Mann ohne ihr Einverständnis eine zweite Frau nehmen würde. Davon haben bereits einige Staaten (Tunesien, Ägypten usw.) offiziell Gebrauch gemacht.

Im Falle einer Erbschaft steht der Frau ein geringerer Erbteil zu als ihren Brüdern, wenn sie einen oder mehrere hat. Dies wird als Ausgleich zur höheren wirtschaftlichen Belastung des Mannes, die der Frau gänzlich fehlt, und als Ausgleich zu den harten Verteidigungspflichten, die nur den Männern und nicht den Frauen obliegen, yerstanden. In der Ausbildung und bei der Besetzung gesellschaftlicher Positionen steht einer völligen Gleichberechtigung der Frau nichts im Wege, vorausgesetzt, daß die moralischen Regeln, zu denen sowohl Männer als auch Frauen verpflichtet sind, eingehalten werden, so daß die Frau als eine gleichwertige Partnerin des Mannes fungieren kann, ohne als Objekt des Konsums und des Interesses der Männer missbraucht und von diesen "belästigt" zu werden (Koran: Sure 33/Vers 59).

Diese Haltung — und speziell diese — hat parallel zu den neuen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den islamischen Ländern vielen Frauen ein sehr hochzuschätzendes Selbstbewusstsein verschafft und zum ersten Mal in der Geschichte des Islam einen neuen muslimischen Frauentyp hervorgebracht, dem die gesellschaftlichen Bewegungen in den islamischen Ländern viel zu verdanken haben und ohne den die Bewegungen keinen Erfolg hätten erzielen können.

Politik als religiöse Verpflichtung

Zu den wichtigsten religiösen Handlungen eines jeden Individuums in der Gemeinschaft gehört der Schutz seines Nächsten. "Jeder von euch ist Schützer (der anderen) und jeder von euch ist für seinen Schützling verantwortlich", heißt es nach einer allgemein anerkannten Anordnung Muhammads (as-Sihah von Bukhari). Daraus und aus einer weiteren Verpflichtung den Islam zu schützen, erwächst die politische Verpflichtung jedes Muslims: Politik nicht im Sinne der bekannten machtanstrebenden diplomatischen und politischen Taktik, Strategie und Finesse, sondern nur im Sinne der Schaffung eines gesellschaftlichen Rahmens, der die Erhaltung und Ausübung der Hingabe an den einzigen Gott und der damit zusammenhängenden Lebensregelungen ermöglicht und das Fortbestehen der damit anvertrauten Gemeinschaft garantiert. Es versteht sich von selbst, daß die so verstandene Politik, bzw. der darauf gegründete Staat von der islamischen Weltanschauung getragen werden und mit Hilfe des islamischen Gesetzes Verwirklichung finden können:

a) Grundlage eines islamischen Staates

Entscheidendste Grundlage dafür ist die Überzeugung von der Gerechtigkeit, die das Entstehen eines solchen Staates ermöglicht und sein Bestehen sichert: Gerechtigkeit im Sinne einer absoluten Gleichheit des Menschen als Individuum und als umma-Mitglied vor dem Gesetz sowie vor der legislativen wie auch der exekutiven Gewalt; und schließlich Gerechtigkeit im Sinne einer absoluten Wertgleichheit der Menschen untereinander und vor Gott. Keiner, nicht einmal der oberste Herrscher, hat das Recht, sich irgendwelche Privilegien zuzulegen, von der Besoldung durch die Staatskasse angefangen bis hin zur gesellschaftlichen Rangordnung. Leistung in jeder Hinsicht und der dementsprechende Verdienst gelten zwar als gesellschaftliche Prinzipien, doch dürfen weder sie noch andere (wie Reichtum, Abstammung, Rang, Position, Geschlecht) zu einem Wertunterschied zwischen den Menschen führen. Leistung wird als Erfüllung einer Pflicht gegenüber Gott und den Mitmenschen angesehen. Mit welchen Schwierigkeiten die Verwirklichung einer solchen, nicht einfach zu realisierenden Gerechtigkeitsidee und mit welch hohen Erwartungen sie seitens der umma verbunden ist, läßt sich ahnen. Die logische Folge ist, daß an sich jeder Muslim für den Islam und die umma dienend verantwortlich ist, auch wenn nicht jeder Mensch in der Lage ist. die Gesamtverantwortung auf sich zu nehmen. Unter Beteiligung aller umma-Mitglieder sollte aber das höchste islamische — politische, gesellschaftliche und religiöse — Amt die Gesamtverantwortung repräsentieren. Ein solches — als religiöse Pflicht gedachtes und von der umma getragenes — Amt kann weder diktatorisch noch theokratisch sein. Man pflegt eine solche Staatsform als Nomokrathie zu bezeichnen.

b) Der Aufbau des Staates nach dem Koran

Entsprechend der erörterten Gerechtigkeitsidee liefert der Koran für die Staatsform ein durchaus konsequentes Konzept, das zwar in der Geschichte des Islam stets als anzustrebende Idealform vor Augen gehalten wurde, welches aber in der Realität nur gelegentlich Verwirklichung gefunden hat (weitgehend unter den vier rechtgeleiteten Kalifen). Das Konzept ist aufgebaut auf der absoluten Gleichheit und Verantwortung aller Gemeinschaftsmitglieder. Dies läßt sich am besten an dem Wort "amr", wörtlich: Angelegenheit, gesellschaftlich, Gesellschaftsordnung, erörtern: Bezüglich der Beteiligung aller Gemeinschaftsmitglieder heißt es: "Ratschlage ihnen (gemeint sind die Gemeinschaftsmitglieder) über al-amr" (die Angelegenheit, die, die Gemeinschaft betrifft); ihre Angelegenheit (amr = gesellschaftsbetreffende Angelegenheit) vollzieht sich unter ihnen durch Beratschlagung (schura)". Für das Bestehen des Staates wird aber auf der anderen Seite der Gehorsam vor der Spitze gefordert, der, der Gemeinschaft als Pflicht obliegt: "Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die über al-amr zu befinden haben bzw. verfügen (ulu‘l-amr)!" Das Phänomen amr beinhaltet somit die gesamte gesellschaftliche Ordnungsstruktur, die aus einer Basis und Spitze besteht, welche eine Einheit bilden. Die Spitze bleibt als Mitglied der Gemeinschaft integriert in die Gemeinschaft. Ihr kommt nur treuhänderisch die Leitung der gesamten Verantwortung zu. Solange Muhammad lebte, war er praktisch derjenige, der auch u. a. die Spitzenposition innehatte. Die Realisierung dieser fast idealen Staatsform hat aber — wie sonst kein anderes islamisches Gebot — seit seinem Tode bis heute Anlaß zu Spaltungen und Auseinandersetzungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft gegeben. Die Spaltung der umma in Sunniten, Schiiten und Kharidjiten zu Beginn der islamischen Zeit geht gerade darauf zurück, nämlich auf die Frage, wer am ehesten als Spitze diese Form zu verwirklichen vermag.

c) Islam und Demokratie

Diese ideale Staatsform jenseits eines die umma zerspaltenden Parteigedanken erweckt den Eindruck, daß es sich dabei weniger um Herrschaft der einen über die anderen, sondern ui die Verantwortung aller Gemeinschaftsmitglieder der für alle handelt, eine Staatsform, die durch die westlichen Kategorien schwer zu erfasse ist. Dieses Ideal gibt den Muslimen sogar den Anlaß die westliche Demokratie als nicht gerecht genug dahin zu kritisieren, daß sie bestenfalls in Wirklichkeit die Herrschaft eines Teils des Volkes über den Rest bedeutet, wobei die islamische Staatsform kein Gesellschaftsmitglied zu Gunsten der anderen von der aktiven Verantwortung ausschließen kann. (Diese Kritik bildet sogar den Ansatz zur Aufstellung der neuen libyschen Staatstheorie.)

d) Herrschaftskritik

Von einigen früheren Perioden abgesehen hatten die Muslime die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen für die relativ beste Zeit, auf die sie sich heute als auf ein Modell einer angestrebten Gesellschaftsordnung beziehen. Dies ist ein Beweis dafür, daß in den späteren geschichtlichen Entwicklungen dieses Gebot in der Regel verletzt, d.h., das dafür notwendige Verantwortungsgefühl der Muslime zu Gunsten der Machthaber bis hin zu einem islamwidrigen Absolutismus missbraucht wurde.

Von den immanent islamischen Machtkämpfen oder sogar kurzlebigen Protesten gegen die jeweiligen Machthaber abgesehen, hat die kritische Haltung gegenüber den traditionellen islamischen Herrschaftsformen in der Geschichte nur gelegentlich zu Widerständen geführt und erst seit der Begegnung des Westens als einer politischen Macht mit dem islamischen Morgenland (seit dem 17. Jh.) und in Folge der Kooperation der muslimischen Herrscher und Politiker mit diesen die Form einer politischen Bewegung angenommen -

Unzufrieden damit, reichen die Lösungsversuche von einem völligen Säkularismus bis hin zu einer völligen politischen Loslösung von Westen und Osten. Dabei handelte es sich nicht um Wunschträume, sondern um Versuche, die jeweils in dem vielschichtigen Gebäude der islamischen Gesellschaft an sich und in der Art ihrer Begegnung mit West und Ost wurzelten. Erwiesenermaßen fruchtlos und sogar schädlich sind zweierlei Versuche: Diejenigen, die entweder die eigene Tradition beiseite legen und eine blinde Verwestlichung und somit eine vorsätzliche Entfremdung anstreben, oder diejenigen, welche im Gegensatz dazu darauf zielen, die dem Koran fremden Sitten und Gebräuche als Modell für das heutige Leben der Menschheit verwenden zu können.

 

Zitierte und weiterführende Literatur

Fischer Weltgeschichte: Der Islam. 2 Bde. Frankfurt:

Fischer 1968/197 1.

    A. Th. Khoury: Einführung in die Grundlagen des

Islam. Graz u. a.: Styria 1978.

Der Koran. Übersetzung von M. Henning. Wiesbaden: Verlag der Vertriebsgesellschaft Modernes Antiquariat (VMA) Fourier und Fertig (Lizenzausg. von

Ph. Reclam jun., Stuttgart: Reclams IJB 4206).

    K. Kreiser u. a.: Lexikon der islamischen Welt. 3

Bde. Stuttgart 1974 (Urban tb 200/1—3).

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