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«Dem stillen Dialog verpflichtet»

Rede Annemarie Schimmels anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1995

Hochansehnliche Festversammlung, hochverehrter Herr Bundespräsident! Ich bin zutiefst dankbar für Ihre wegweisende Rede, durch die Sie mich geehrt haben und in der Sie die Wichtigkeit der Toleranz und des Verständnisses fremder Kulturen für unsere Politik so stark betont haben. Als ich mit großer Überraschung und Freude erfuhr, daß mir der Friedenspreis zugesprochen wurde, ahnte wohl niemand, daß sich in den darauffolgenden Monaten eine Kampagne von solcher Heftigkeit entwickelte, daß mir mein Lebenswerk, das ich der Verständigung zwischen Ost und West geweiht hatte, zerstört schien. Doch habe ich nicht auf den Preis verzichtet, weil ich mich den Orientalisten, die sich um den stillen Dialog bemühen, verpflichtet fühle, ebenso wie allen Menschen guten Willens in der islamischen Welt, und dem Werk der Verständigung, für das ich ein halbes Jahrhundert gelebt habe. Ich hoffe, daß diejenigen, die mich angegriffen haben, ohne mich oder mein Werk zu kennen, nie eine ähnliche Seelenqual zu durchleben brauchen. Ich habe dies gelernt; die Methoden von Wissenschaft und Dichtung sind eines, die des Journalismus und der Politik ein anderes. Doch beide Seiten sind sich einig, welch zentrale Rolle dem Wort, dem freien Wort in unserer Gesellschaft, in unserem Leben zukommt. Ich glaube, ich habe in den letzten Monaten oft genug gesagt, daß ich die unheilvolle Fatwa gegen Salman Rushdie ablehne und auf meine Art helfen werde, für die Freiheit des Wortes einzustehen, des Wortes, über dessen befreiende Rolle mein pakistanischer Dichterfreund Faiz in den fünfziger Jahren aus dem Gefängnis schrieb. Wir aber werden täglich durch die Massenmedien nicht unterrichtet, sondern unausweichlich eingebunden in ein Bild der Welt, das uns oftmals mit Schrecken, immer aber mit Sorgen erfüllt. Können wir überhaupt noch ein positives Verhältnis zu der islamischen Kultur haben, der wir so viel verdanken, die aber den meisten Europäern fremd erscheint und der immer wieder vorgehalten wird, sie habe keine Reformation, keine Aufklärung gehabt? Vergessen dabei die meisten nicht, daß die islamische Welt zwischen Westafrika und Indonesien höchst verschiedene kulturelle Ausdrucksformen hat, wenn sie auch im festen Glauben an Gott und in der Anerkennung Muhammads als des letzten Propheten eine gemeinsame Grundlage besitzt? Doch in einer Zeit der Informationsflut, in der Nachrichten uns plakativ überströmen, scheint es fast unmöglich, feiner zu differenzieren und die zarteren Zwischentöne, die positiven Aspekte des gelebten Islam zu erkennen. Ich habe Istanbul Winkel um Winkel durch die Gedichte kennengelernt, die türkische Dichter seit fünf Jahrhunderten über diese zauberhafte Stadt geschrieben haben; habe die Kultur Pakistans durch die Verse liebengelernt, die dort in allen Provinzen widerhallten. Damit berühren wir einen Punkt, der mir immer wichtiger erscheint, nämlich das Problem des liebevollen Verstehens fremder Kulturen, wenngleich das Wort ,Verstehen¹ heute mit dem Makel behaftet zu sein scheint, daß es einem kritiklosen Verzeihen gleichgesetzt wird. Echtes Verstehen erwächst aus der Kenntnis historischer Tatsachen und Entwicklungen; doch solche Kenntnis fehlt heute vielen. Manchmal dachte ich, wenn Friedrich Rückert heute lebte, hätte er den Friendenspreis des Deutschen Buchhandels verdient. Denn er, dessen Motto war „Weltpoesie allein ist Versöhnung" und der in seinem Leben Tausende von meisterhaften poetischen Übertragungen aus Dutzenden von Sprachen vefaßte, wußte daß die Poesie, jene 'Muttersprache des Menchengeschlechtes', die Völker verbindet als Bestandteil aller Kulturen. Die Zeit aber, da Rückert von der Poesie als Medium der Weltvesöhnung, und das auch des Friedens, sprach, hatte ein ganz anderes Verhältnis zur nicht-abendländischen Welt als wir. Mit Erstaunen und Entsetzen hatte das Abendland im 8. und 9. Jahrhundert die Eroberungen der Muslime im Mittelmeerraum verfolgt, hatte aber auch die Grundlagen der heutigen Naturwissenschaft von den Arabern über das jahrhundertelang von ihnen beherrschte Andalusien übernommen. Medezinische Werke wie die von Rhases und Avicenna galten bis zum Beginn der Neuzeit in Europa als Standardwerke; die Schriften des Averroes befruchteten theologische Diskussionen und wiesen den Weg zur Aufklärung. ... 'Der Mensch ist der Feind dessen, was er nicht kennt !' heißt es nicht nur im griechischen, sondern auch im arabischen Sprichwort. ... Denn es ist das Wort, das, wie die persischen Dichter immer wiederholen, durch seinen 'Duft' den Charakter des Sprechenden verrät, so wie ein mit Knoblauch gefüllter Mendelkuchen seinen Inhalt verrät, selbst wenn er äußerlich appetitlich aussieht. 'Ein gutes Wort ist wie ein guter Baum', heißt es im Koran (Sura 14, 24), und in den meisten Religionen gilt das Wort als schöpferische Macht und ist Träger der Offenbarung - sei es als fleischgewordenes Wort Gottes im Christentum, sei es als buchgewordenes Wort Gottes im Islam. Das Wort ist das dem Menschen anvertraute Gut, das er hüten soll und das er nicht, wie es so oft geschieht, abschwächen, verfälschen, zu Tode reden darf: denn es besitzt Kräfte, die wir nicht abschätzen können.... Ich neige dazu, Herders Worten beizustimmen: Aus der Poesie lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als aus dem täuschenden trostlosen Wege der politischen und Kriegsgeschichte. ... Die spätere Poesie der islamischen Völker ist weigehend geprägt von der Mystik. Aber man sollte nicht, wie es so oft geschieht, Mystik gleichsetzen mit Obskurantismus, mit Flucht vor der 'Realität' oder etwas, das für uns, die wir durch die Aufklärung gegagen sind, keinerlei Sinn und Wert mehr hat. Viele der großen mystischen Denker und Dichter waren Rebellen gegen das, was sie als Unrecht empfanden, gegen einen korrupten Staat, gegen haarspaltende Rechtsgelehrte, die wie der große Denker al-Ghazzali im 11. Jahrhundert in seiner Autobiographie schreibt, 'zwar alle Einzelheiten des Scheidungsrechtes kannten, aber nichts von der lebendigen Gegenwart Gottes wußten'.... Iqbal, der geistige Vater Pakistans, ist vielleicht das beste Beispiel für eine moderne Interpretation des Islams durch seine Poesie, die in den dreißiger Jahren in aller Munde war; denn nur durch das leicht zu memorierende Wort konnte man die weithin illiteraten Massen erreichen. Unter dem Einfluß Goethes und Rumis hat Iqbal einen dynamischen Islam zu postulieren versucht. Er wußte, daß der Mensch berufen ist, die Erde Gottes im Zusammenwirken mit dem Schöpfer zu verbessern, und daß er die niemals endenden Möglichkeiten, den Koran zu interpretieren, ausschöpfen müsse, um im Wechsel der Zeiten zu bestehen. Aber er lehrte auch, daß man bei aller Bewunderung für den und der selbstverständlichen Teilnahme am technologischen Fortschritt sich niemals einsetig auf den Intellekt verlassen dürfe. In einem zentralen Gedicht seiner 'Botschaft des Ostens' sagt er, daß 'Wissenschaft und Liebe', kritische Analyse und liebende Synthese, zusammenwirken müssen, um positive Werte für die Zukunft zu schaffen. ... Ich habe weder im Koran noch in der Traditionsliteratur irgend etwas gefunden, das Terrorismus oder Geiselnahme befehle oder auch nur gestatte. Die Goldene Regel ist ein wichtiger Bestandteil islamischer Ethik. Kein denkender Mensch wird terroristische Akte, in welchem Winkel der Erde und aus welcher Weltanschauung sie geschehen, gutheißen. Niemand wäre glücklicher als wir Orientalisten, wenn Todesurteile oder Gefängnisstrafen für Personen abweichender Meinung, für Kritiker abgeschafft würden. Man mag meinen, das Bild, das ich vom Islam zeichne, sei zu idealistisch, fern den harten Realitäten der Politik. Aber als Religionswissenschaftlerin habe ich gelernt, daß man Ideal mit Ideal vergleichen muß.... Mein Bild vom Islam ist entstanden nicht nur durch jahrzehntelange Beschäftigung mit den Erzeugnissen islamischer Literatur und Kunst, sondern mehr noch durch den Umgang mit muslimischen Freunden in aller Welt und aus allen Bevölkerungsschichten, die mich liebevoll in ihre Familien aufnahmen und mich mit ihrer Kultur vertraut machten.... Für mich sind es Menschen wie die Solinger Türkin Mevlude Genc, die trotz der schrecklichen Morde keinen Haß auf die Deutschen empfindet, welche jenen toleranten Islam verkörpern, den ich jahrzehntelang kennengelernt habe.... Mein Weg ist nicht der der öffentlichen Deklaration, er ist unspektakulär, aber ich vertraue darauf, 'daß das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt'. Die Worte, die der Herr Bundespräsident in seiner Laudatio gefunden hat, werden mich auf diesem Weg stärken. Und mit der Bitte um Kraft, zum Frieden beizutragen, danke ich zuerst und zuletzt dem, von dem Goethe im West Östlichen Divan sagt: Gottes ist der Orient,

Gottes ist der Okzident,                                                                                                                                                      

Nord und südliches Gelände

liegt im Frieden seiner Hände.

Er, der einzige Gerechte,

will für jedermann das Rechte,

Sei von seinen hundert Namen dieser hochgelobt. Amen.

Islamische Zeitung, Nr: 4, 1996


source : الشیعه
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